Das Geheimnis des Chen
Jeden Tag erzählten sich die Kinder auf dem Schulhof Geschichten, jeder war einmal an der Reihe… An diesem Tag war Chen dran. Aber er sagte nichts. Chen hatte nichts zu erzählen. Er gab an den Nächsten weiter. Danach blieb er oft in einer Ecke sitzen, weit weg von den anderen Kindern. Irgend etwas stimmte ihn traurig. Aber — eines Tages…
Welch seltsames Blatt! Chen hatte noch nie zuvor etwas so Schönes gesehen. Woher kam es? Was war nur hinter dieser Mauer? Auf der anderen Seite der Mauer öffnete sich ein Garten.
Chen betrachtete sein Blatt und versuchte herauszufinden, von welchem Baum es stammen könnte. Gerade in diesem Moment kam der Gärtner.
— Dein Blatt stammt von dem großen Baum dort hinten, dem schönsten im Garten. Es ist ein Ginkgo. Man nennt ihn auch den Baum der Geheimnisse.
— Warum? fragte Chen.
— Seit ewiger Zeit schreiben alle, die ein bedrückendes Geheimnis haben, dieses auf ein Blatt Papier und hängen es an die Zweige des Baumes. Wenn eine starke Windböe kommt, lösen sich die Geheimnisse und fliegen davon. Chen setzte sich an den Fuß des Baumes. Er riss ein Blatt aus seinem Heft, nahm einen Stift und begann zu schreiben. Er musste hoch hinaufklettern, um es aufzuhängen. Chen fühlte sich erleichtert. Er kam zurück auf den Schulhof. Die anderen Kinder riefen — Komm zu uns, Chen, komm zu uns!
— Bin schon da! Auf der anderen Seite der Mauer vergingen die Jahreszeiten. Der Herbst kam und mit ihm bald auch starke Windböen… Die Windböen wurden immer stärker. Alle Blätter des Ginkgo waren davongeflogen. Und im Baum blieben nur noch die Geheimnisse, umspielt vom Wind. Hunderte von Geheimnissen.
— Du siehst, du bist nicht allein, sagte der Gärtner. Dein Blatt hängt noch dort oben. Es wartet weiterhin. Das Geheimnis eines Jeden lüftet sich erst, wenn seine Zeit gekommen ist. Während der Pause war Chen fröhlich. Er war wieder an der Reihe:
— Erzähle uns was, Chen, erzähle uns was! Die Kinder setzten sich im Kreis um ihn herum.
— Ich werde euch jetzt die Geschichte vom Baum der Geheimnisse erzählen.
Und während er erzählte, trug eine weitere Windböe sein Geheimnis über den Hof. Der Regen hatte es fast ausgelöscht, der Wind hatte es geöffnet, es flog, als sei’s ein Ginkgo Blatt.
Sam&Léon: Das Geheimnis des Chen. Kaltenkirchen: Elatus Verlag 2004